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Vom kulinarischen Spitzenprodukt zum Mythos: Auf den Spuren des Waldviertler Kipflers

„Erdäpfel sind kein Gourmetprodukt“ – dass dieser Satz nicht stimmt, beweist die Geschichte der Erdäpfelsorte Kipfler. Die aus dem Waldviertel stammende Knolle war um das Jahr 1900 europaweit begehrt – sie wurde in Frankreich und England kredenzt und sogar an der Londoner Börse gehandelt. Heute ist die Sorte fast vollständig verschwunden. Was ist passiert?

Das Waldviertel: Sanfte Hügellandschaften, dunkle Wälder, malerische Dörfer. Und: Landwirtschaft. Die Region im Norden Niederösterreichs ist eines der größten Agrargebiete des Landes – und das größte Erdäpfel-Reinzuchtgebiet. Hier befindet sich die Wiege einer ganz besonderen Erdäpfelsorte, des Waldviertler Kipflers. Vor hundert Jahren galt die hörnchenförmige Kartoffel als absolute Delikatesse, wurde nach ganz Europa exportiert und von den edelsten Gasthäusern serviert.

Heute kennen zwar noch alle seinen Namen, anbauen will den Kipfler aber kaum mehr jemand. Dass der Erdäpfelanbau ein so dynamisches Feld ist, liegt nicht zuletzt an den strengen Vorgaben der Lebensmittelindustrie. ‚Universalerdäpfel‘ wie der seit Langem beliebte Ditta sind nicht nur besonders vielseitig. Auch ihre Form entspricht den Richtlinien, sie sind gut sortierbar, leicht zu lagern.

Hörnchenförmige Spezialität: Die Kipfler Erdäpfel
Hörnchenförmige Spezialität: Die Kipfler Erdäpfel (Foto: Picture Partners/stock.adobe.com)

Alte Sorten – Potenzial oder pure Nostalgie?

Bei alten Sorten ist das anders – die haben mitunter ihren eigenen Willen. Sie sind krummgewachsen und schief, lang und gebogen, bunt oder voller Flecken. Jede Kartoffel ist anders, ein Individuum – nichts für die Normvorgaben der Supermarktregale.

Eine weitere Schwierigkeit ist die fehlende Widerstandskraft der alten Sorten. Sie bekommen oft schneller Krankheiten, etwa Knollen- oder Krautfäule oder das Y-Virus, und sind deswegen für viele Bauern nicht rentabel. „Der Kipfler ist nicht an die aktuellen klimatischen Bedingungen angepasst“, erklärt Ludwig Koller, Mitarbeiter des Erdäpfelmuseums in Schweiggers. Das sei aber nichts Ungewöhnliches: „Die Sorten überleben sich, es kommen ständig neue dazu und alte fallen weg.“ Die unvermeidliche Folge solcher Makel ist die Vereinheitlichung der angebauten Erdäpfel. Nur wenige haben noch Interesse daran, die volle Bandbreite der Sorten zu bewahren – und die finanziellen Mittel, dieses Ziel zu verfolgen.

Ein Hort der Sortenvielfalt ist die Arche Noah in Schiltern – nirgendwo sonst in Österreich wird alten Sorten so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Züchterische Forschung zu alten Erdäpfelsorten wie dem Kipfler wird hier momentan allerdings nicht durchgeführt. In der niederösterreichischen Saatbaugenossenschaft, die ebenfalls einen Fixpunkt in Sachen Sortenentwicklung bildet, gibt es noch Auseinandersetzung mit dem Kipfler – allerdings nicht ohne Vorbehalte. Die Sorte sei mittlerweile zur Rarität geworden, ein Nischenprodukt, so ein Mitarbeiter. Zwar werde der Kipfler weiterhin erhalten, aufgrund der hohen Krankheitsanfälligkeit sei es aber schwierig, gesundes Saatgut zur Verfügung zu stellen. Die Weiterentwicklung konzentriere sich daher eher auf neuere Sorten wie die kipflerähnliche Graziosa; in Projekten wie KLIMAFIT sollen außerdem hitze- und trockenheitsresistente Sorten gezüchtet werden. Neue Sorten, Graziosa oder die beliebte Valdivia, räumen regelmäßig bei Wettbewerben wie dem „Goldenen Erdapfel“ ab. So glamourös seine Geschichte auch ist – der Kipfler kann hier nicht mehr mithalten.


Blockheide im Waldviertel

Blockheide im Waldviertel
(Foto: grafxart/stock.adobe.com)

Zum Begriff

Waldviertler Kipfler: Die originale Sorte, die vor hundert Jahren als absolute Delikatesse galt; noch immer im kollektiven Gedächtnis verankert; teilweise umgangssprachliche Bezeichnung für verschiedene Kipflersorten, die im Waldviertel angebaut werden
Naglerner Kipfler: Die 1956 eingetragene Sorte aus dem Weinviertel, entstanden durch Selektion, die noch heute Teil der EU-Sortenliste ist
Kipfler: Umgangssprachliche Bezeichnung der Sorte


Wie es (trotzdem) mit dem Kipfler funktionieren kann

Über den Verbleib des ‚Original-Kipflers‘, den Erdäpfel-Popstar der Jahrhundertwende, ist heute kaum etwas in Erfahrung zu bringen. Nach wie vor im Umlauf sind genetisch verwandte Sorten wie das Bamberger Hörnchen, der Tannenzapfen oder die alte französische Sorte La Ratte, und auch der bekannteste Nachfolger aus den 1950er-Jahren, der Naglerner Kipfler, ist nach wie vor in der EU-Sortenliste vertreten. Es gibt also prinzipiell keine rechtlichen Einschränkungen, weiterhin Kipfler-Erdäpfel anzubauen. Trotzdem gibt es nur wenige Betriebe, die das tun.

Eine dieser Ausnahmen bildet Joseph Lang, ein Landwirt aus dem Weinviertel. Er hat sich auf alte Erdäpfelsorten spezialisiert – über 30 verschiedene hat er im Angebot, das Saatgut importiert er aus ganz Europa. Seinen Kunden bietet er eine individuelle Beratung, um für jeden Anlass den richtigen Erdapfel zu finden. Die typischen Eigenschaften wie festkochend oder mehlig sind dabei ebenso wichtig wie die Farbe und das individuelle Aussehen – denn das Auge isst nun einmal mit.

„Es kommt vor, dass die Kunden einen bestimmten Erdapfel wollen, gerade wegen seiner besonderen Form“, erzählt der Landwirt. „Das hat auch damit zu tun, dass ich ihnen erkläre, wie die Wuchsform zustande gekommen ist“. Denn kaum einer weiß: Was von der Lebensmittelindustrie als Makel ausgewiesen wird, ist nicht selten ein faszinierendes Klimadokument. An den Ausbuchtungen, schmaleren Stellen und Verwachsenheiten der einzelnen Knollen lassen sich niederschlagsreiche Zeiten ebenso ablesen wie längere Trockenperioden.

Auch das Argument von Alleskönnern und ‚Universalerdäpfeln‘ lässt Joseph Lang nicht gelten: „Meine ehrliche Meinung? Der Ditta ist ein Auslaufmodell“, erklärt er. Als Betrieb mit einer eher kleinen Fläche hat er sich auf ein vielfältiges Angebot alter Sorten spezialisiert. Dass er davon leben kann, gelingt nur über den Vertrieb in Direktvermarkung, und weil er auch anderes Gemüse anbaut. Vom Erdapfel allein könne man nicht leben, und aufgrund der Formenvielfalt der alten Sorten habe man damit bei Händlern keine Chance.

Wozu heute Kipfler anbauen?

Was den Kipfler betrifft, zeigt sich der Landwirt zurückhaltend. Hatte er vor ein paar Jahren noch sieben Varietäten des Kipflers im Angebot, so sind es heuer nur mehr zwei. Es sei sehr schwierig geworden, überhaupt noch Saatgut für den Kipfler zu bekommen, er selbst beziehe es vor allem aus Deutschland, nur der Naglerner Kipfler komme aus der näheren Umgebung, dem Bezirk Korneuburg. Hinzu komme die schwierige Lagerung; dass man, wie er, im Mai noch Kipfler aus dem Vorjahr im Angebot habe, sei ungewöhnlich und nicht leicht umsetzbar.

Eine spannende Fährte führt allerdings in die Genforschung – es gibt Hinweise, dass es durchaus möglich wäre, den originalen Waldviertler Kipfler aus eng verwandten, alten Sorten wie La Ratte oder dem Tannenzapfen zu rekonstruieren. Noch endet diese Spur zwar bei der Idee, doch das könnte sich schnell ändern.

Gerade in Zeiten, in denen die Lebensmittelindustrie häufig auch kritische Aufmerksamkeit erfährt, ist das Interesse an ungewöhnlichen Sorten, an Formenvielfalt und kleineren Strukturen groß. So ist es wohl kein Zufall, dass in Bio-Läden im trendigen 7. Wiener Gemeindebezirk Erdäpfel aus dem Weinviertel unter dem Namen ‚Waldviertler Kipfler‘ vertrieben werden. Auch Joseph Langs Betrieb ist ein Beispiel, dass Kenner sehr wohl nach Alternativen im Angebot Ausschau halten. Die Antwort auf die Frage, warum er den Kipfler trotz aller Widrigkeiten weiter anbaue, fällt kurz und bündig aus: „Alle haben mich danach gefragt!“

Vor allem ältere Generationen erinnern sich noch gut an den Erdäpfelsalat, der zu Weihnachten gerne mit Kipfler Erdäpfeln zubereitet wurde – eine echte Delikatesse, die auch in renommierten Gasthäusern der Bundeshauptstadt serviert wurde. Der Kipfer ist ein Mythos – und er ist nach wie vor ein Begriff. Er steht für Tradition, Genuss, und in einer Zeit der genormten Gurken und Bananen vielleicht auch für einen gewissen Eigensinn.

Auch wenn dem Waldviertler Ur-Kipfler schwer auf die Schliche zu kommen ist, wirkt sein Erbe noch in der Erinnerung der Menschen nach. Und wer weiß – vielleicht wäre ja genau jetzt der richtige Zeitpunkt, den sagenumwobenen Kipfler wieder auszugraben.

Sie gehören zu den wenigen, die selbst noch Kipfler anbauen? Oder Sie kennen jemanden, der über den originalen Waldviertler Kipfler Bescheid weiß? Dann melden Sie sich bei uns!


Der Waldviertler Erdapfel

Dass das Waldviertel das größte Erdäpfel-Reinzuchtgebiet Österreichs ist, ist kein Zufall. Auf dem Granitgestein der Böhmischen Masse gelegen findet sich saure Böden von bester Qualität – das Ideale Habitat des Erdapfels. Auch auf der Website der Tourismusregion wird der Waldviertler Erdapfel als Gourmetprodukt ausgewiesen – immerhin zählt er zum kulinarischen Erbe Österreichs: „Die besondere Bodenbeschaffenheit und die klimatischen Verhältnisse in der Region bewirken im Zusammenspiel mit den Anbauverfahren, der Reife bei der Ernte und den Lagerungsbedingungen Erdäpfel von höchster Qualität mit charakteristischem Erscheinungsbild und Geschmack“, so die Begründung. Der Erdapfel ist im Waldviertel längst vom profillosen Grundnahrungsmittel zum identitätsstiftenden Markenprodukt avanciert. Er findet sich in Tourismusbroschüren, auf Websiten und Werbeplakaten, und in Schweiggers wurde ihm sogar ein eigenes Museum gewidmet. Schon lange werden viele regionale Spezialitäten wie Erdäpfelknödel, -salat oder -taler mit Erdäpfeln gekocht, doch auch aus der Marke Waldviertel ist der Erdäpfel nicht mehr wegzudenken. Der Kipfler allerdings taucht bei alldem bestenfalls am Rande auf. Berechtigte Weglassung oder fatales Versäumnis? Sagen Sie uns Ihre Meinung!

Das Waldviertel – das größte Erdäpfel-Reinzuchtgebiet Österreichs

Das Waldviertel – das größte Erdäpfel-Reinzuchtgebiet Österreichs (Foto: manuelmayrhofer/stock.adobe.com)

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